Stefan Zweig. Leben und Sterben.
Stefan Zweig wurde am 28. November 1881 in Wien als Sohn des Textilindustriellen Moritz Zweig geboren. Nach dem Besuch des Gymnasiums in Wien 1891-1899 studierte er Germanistik und Romanistik und wurde mit einer Arbeit über Die Ursprünge des zeitgenössischen Frankreich 1904 in Wien zum Dr. phil. promoviert.
Viele Studien- und Vortragsreisen führten ihn nicht nur in die westeuropäischen Länder, sondern auch nach Indien 1910, Nord- und Mittelamerika 1912, die Sowjetunion 1928 und ab 1935 mehrfach nach Südamerika. 1938 war seine erste Ehe geschieden worden, 1939 heiratete er Lotte Altmann. Er lebte kurze Zeit in New York und siedelte 1941 nach Petropolis (Brasilien) über, wo er am 22. Februar 1942 zusammen mit seiner zweiten Frau den Freitod suchte. In seinem Nachlaß fanden sich auch seine Erinnerungen eines Europäers. Zweigs schriftstellerisches Werk, darunter Nachdichtungen von Verhaeren, Baudelaire und Verlaine sowie viele politische und literarhistorische Essays, beeindruckt heute wie damals durch sein humanistisch geprägtes Weltbürgertum.
Stefan Zweig. Dialogpost und Blogposts.
»Daß etwas Neues in der Kunst sich vorbereitete, etwas, das leidenschaftlicher, problematischer, versucherischer war als unsere Eltern und unsere Umwelt befriedigt hatte, war das eigentliche Erlebnis unserer Jugendjahre. Aber fasziniert von diesem einen Ausschnitt des Lebens, merkten wir nicht, daß diese Verwandlungen im ästhetischen Raume nur Ausschwingungen und Vorboten viel weiterreichender Veränderungen waren, welche die Welt unserer Väter, die Welt der Sicherheit erschüttern und schließlich vernichten sollten« (Stefan Zweig 1938, in „Die Welt von gestern“)
Das Wien um 1900 ist das Wien Hugo von Hofmannsthals und Stefan Zweigs; es ist auch die müde, lebenssatte Metropole der österreichisch-ungarischen Monarchie in der schönen Epoche vor dem großen Krieg. Es ist ein Wien, von dem man meinen möchte, daß Kaiser Franz Joseph es absichtlich in einen Dornröschenschlaf versenkt hatte. Die jungen Dichter dieser Metropole gefielen sich allzusehr in ihrer selbstbespiegelnden, ästhetisierenden Wesensart. Möchten wir indessen auch nur eines der Gedichte missen, die die damals Siebzehn- bis Achtzehnjährigen schrieben? Jenes von Hofmannsthal. Manche freilich müssen drunten sterben, in dem der Knabe, Abkömmling einer lombardischen Aristokratin und eines vom Kaiser in den Adelsstand erhobenen Vaters, er, der Erbe eines alten Geschlechts, jene unvergeßlichen Zeilen dichtete: „Ganz vergessener Völker Müdigkeiten kann ich nicht abtun von meinen Lidern.“
»Man lebte gut, man lebte leicht und unbesorgt in jenem alten Wien.« Und wirklich, was ging sie das an, was außerhalb Österreichs geschah, was veränderte es in ihrem Leben? In ihrem Osterreich gab es in jener windstillen Epoche keine Staatsumwälzungen, keine jähen Wertezerstörungen; …«
So sah und erlebte Zweig von Jugend an mehr als nur die glatte Oberfläche. Seine Gesellschaftskritik blieb zwar stets verbindlich, war aber darum nicht weniger eindringlich. Wien gab diesem hochsensiblen, von seinen Freunden ab 1938 „Schwarzseher“ genannten Menschen die Impulse.
Seine Jugend hatte er verwöhnt in einem reichen Elternhaus verbracht. Die Schule nahm er ohne sonderliche Anteilnahme hin als etwas anscheinend Notwendiges. Arthur Schnitzler, ein anderer Wiener Freund, sagte von ihm, Stefan Zweig wäre ein überdurchschnittlich begabter Schüler gewesen, dem alle Aufgaben »bummelnd in den Schoß« fielen. Aber mit dem Tage der Schulentlassung stand für ihn die Welt offen, und es verlockte ihn, ihre Weite kennenzulernen, ihre Tiefe auszuloten. Schnell durchlief er die ersten Wiener Semester, um dann nach Berlin zu gehen, das ihn anzog, weil er das Gegensätzliche auskosten wollte, das Fremde einer Stadt, die wenig oder gar nichts mit der Stätte seiner Kindheit gemein hatte.
»In Berlin saß ich in den Cafes und Wirtschaften zusammen am selben Tisch mit schweren Trinkern und Homosexuellen und Morphinisten, ich schüttelte, sehr stolz, die Hand einem ziemlich bekannten und abgestraften Hochstapler. Alles, was ich den realistischen Romanen kaum geglaubt hatte, schob und drängte sich in den kleinen Wirtsstuben und Cafes, in die ich eingeführt wurde, zusammen, und je schlimmer eines Menschen Ruf war, um so begehrlicher mein Interesse, seinen Träger persönlich kennenzulernen. Diese besondere Liebe oder Neugier für gefährdete Menschen hat mich übrigens mein ganzes Leben begleitet … «
Mit dreiundzwanzig Jahren wurde Zweig zum Doktor phil. promoviert, um dann sehr klar und entschieden zu erkennen, daß er auf dem eingeschlagenen akademischen Weg nicht weit kommen würde. Und so beschloss er zunächst sich den Übersetzungen (zum Beispiel von Rolland und Verhaeren) zu widmen.
»Dem eigenen Wunsch und dem Rate Richard Dehmels folgend, nützte ich meine Zeit, um aus fremden Sprachen zu übersetzen, was ich noch heute für die beste Möglichkeit für einen jungen Dichter halte, den Geist der eigenen Sprache tiefer und schöpferischer zu begreifen … Gerade dadurch, daß jede fremde Sprache in ihren persönlichsten Wendungen zunächst Widerstände für die Nachdichtung schafft, fordert sie Kräfte des Ausdrucks heraus, die ungesucht sonst nicht zum Einsatz gelangen, und dieser Kampf, der fremden Sprache zäh das Eigenste abzuzwingen, hat für mich immer eine besondere Art künstlerischer Lust bedeutet. Weil diese stille und eigentlich unbedankte Arbeit Geduld und Ausdauer forderte, wurde sie mir besonders lieb; denn an dieser bescheidenen Tätigkeit der Vermittlung erlauchten Kunstguts empfand ich zum erstenmal die Sicherheit, etwas wirklich Sinnvolles zu tun, eine Rechtfertigung meiner Existenz…«
Er verband dieses volle Jahrzehnt außerdem – bis zum Ersten Weltkrieg – mit ausgedehnten Reisen nach Frankreich, England, Italien, Schweden, Spanien, Kanada, Kuba, Mexiko, Amerika, Indien, Ceylon, China, Afrika »und bin so allmählich Europäer geworden«, wie er selbst von sich sagte.
Überall in der Welt hatte er Freunde, deren Namen über alle Zeiten klang- und glanzvoll sind: Rilke, Freud, Rolland, Masereel, Gorki, Shaw, Toscanini, Bruno Walter, Albert Schweitzer; eine lange, ehrenvolle Liste ließe sich zusammenstellen.
Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs begann für ihn eine einschneidende Wendung.
»Jetzt zum erstenmal hatte ich das Gefühl, gleichzeitig aus mir selbst zu sprechen und aus der Zeit. Indem ich versuchte, den andern zu helfen, habe ich damals mir selbst geholfen (…) Von dem Augenblick, da ich versuchte, die Krise zu gestalten, litt ich nicht mehr so schwer an der Tragödie der Zeit (…) Immer lockte es mich, die innere Verhärtung zu zeigen, die jede Form der Macht in einem Menschen bewirkt, die seelische Erstarrung, die bei ganzen Völkern jeder Sieg bedingt (…) Mitten im Kriege, indes die andern sich noch, voreilig triumphierend, gegenseitig den unfehlbaren Sieg bewiesen, warf ich mich schon in den untersten Abgrund der Katastrophe und suchte den Aufstieg.«
Unvergleichlich schien die jetzt einsetzende Intensität dieses Dichters und Schriftstellers. Längst hatten Erfolg und Weltruhm sich an seinen Namen geheftet. Vor allem liebte ihn die Jugend, der sein Werk Vertrauen und Hoffnung, Beispiel und Richtung gab. Seine Leser, die nach Hunderttausenden zählten, erwarteten jedes neue Buch von ihm mit Ungeduld.
Und je stärker sich für ihn die literarische Welt interessierte, ihn ins Rampenlicht der breiten Öffentlichkeit zerren wollte, desto mehr verbarg sich der Mensch Zweig, um ganz seiner Aufgabe zu leben und den innersten Beweggründen zu folgen, die seine Werke in dieser Epoche prägten:
»Auch das Fremdeste zu verstehen, immer Völker und Zeiten, Gestalten und Werke nur in ihrem positiven, ihrem schöpferischen Sinne zu bewerten und durch solches Verstehenwollen und Verstehenmachen demütig, aber treu unserem unzerstörbaren Ideal zu dienen: der humanen Verständigung zwischen Menschen, Gesinnungen, Kulturen und Nationen.«
Und dann begann der zweite Weltkrieg:
»Jener Septembertag 1939 zieht den endgültigen Schlußstrich unter die Epoche, die uns Sechzigjährige geformt und erzogen hat. Aber wenn wir mit unserem Zeugnis auch nur einen Splitter Wahrheit aus ihrem zerfallenden Gefüge der nächsten Generation übermitteln, so haben wir nicht vergebens gewirkt«
Stefan Zweig war durch Übersetzungen im Ausland mindestens ebenso populär geworden wie in den deutschsprachigen Ländern. Die dadurch entstandenen Kontakte zu einflussreichen Menschen des Buchwesens bereiteten ihn auch materiell auf die nun zwangsläufig folgende Emigration nach Brasilien vor. In der Emigration war er somit einer der wenigen, die sowohl über finanzielle Mittel wie einflußreiche Bekannte verfügten. Damit half er, wo immer er konnte, andere mit Visen oder Affidavits in die Emigration zu retten und ihnen dort weiter zu helfen. Sein psychologisches Einfühlungsvermögen, das ihn befähigte, seine historischen Biographien zu schreiben, bewährte sich auch im praktischen Hier und Heute. Schriftstellern wie Joseph Roth und Ernst Weiß beispielsweise zahlte er mit monatlichen Renten ihren Lebensunterhalt. Seine Briefwechsel aus den Jahren der Emigration belegen die immer neuen Versuche zu helfen, wo immer es nötig war.
An dem Verlust seiner vielen Freunde und an dem Heimweh nach einer europäischen Welt, in der er vor ihrem Zerfall gelebt und geatmet hatte, ist er jedoch letztendlich seelisch zugrunde gegangen.
In vielen Briefen an seine Freunde aus dem letzten Lebensjahr klingt erschütternd immer wieder die Klage über seine Einsamkeit, die ihn deprimierte, über die Aussichtslosigkeit zu helfen, die ihn oft bis zur Verzweiflung trieb. In einem Brief an Hermann Hesse kommt diese Aussichtslosigkeit besonders zum Vorschein. Er ist gerichtet an einen Freund und trägt das Datum 15. Dezember 1941, wurde also wenige Wochen vor seinem Tode geschrieben:
»Vielen Dank für Ihren Brief und das Buch von Franz Silberstein, das in seiner Klarheit äußerst eindrucksvoll ist. Wie tragisch, daß wir Wenigen das Richtige wußten und wissen, und mit diesem Wissen so jämmerlich ohnmächtig sind. Ich sehe im Augenblick nicht, was ich für das Buch tun könnte, abgeschnitten, wie man von allen Verbindungen ist. Aber wenn sich irgendeine Gelegenheit ergibt, werde ich sie gewiß nicht versäumen. Nie war Kollegialität und gegenseitige Hilfe notwendiger als in diesen grauen Zeiten. Ich bin so niederträchtig, Sie und jeden ein wenig zu beneiden, der ein stabiles Dach über seinem Kopfe hat. Ich lebe jetzt seit anderthalb, eigentlich seit sieben Jahren immer im Provisorischen und gerade hier, wo man sie am nötigsten brauchte, fehlt einem eine richtige Bibliothek. Manche Arbeit, die ich sonst beginnen und fördern könnte, bleibt dadurch stecken. Aber so wenig wie in einem fahrenden Eisenbahnzug kann man bei einem Welterdbeben richtig schreiben.«…
Und in seiner Welt von gestern sagte er 1942:
»Ich schreibe meine Erinnerungen in der Fremde und ohne den mindesten Gedächtnisbehelf. Kein Exemplar meiner Bücher, keine Aufzeichnungen, keine Freundesbriefe sind mir in meinem Hotelzimmer zur Hand. Nirgends kann ich mir Auskunft holen, denn in der ganzen Welt ist die Post von Land zu Land abgerissen oder durch die Zensur gehemmt. Wir leben jeder so abgesondert wie vor hunderten Jahren, ehe Dampfschiff und Bahn und Flugzeug und Post erfunden waren. Von all meiner Vergangenheit habe ich also nichts mit mir, als was ich hinter der Stirne trage. Alles andere ist für mich in diesem Augenblick unerreichbar und verloren«.
In Petropolis (Brasilien) setzte Stefan Zweig am 22. Februar 1942 seinem Leben schließlich freiwillig ein Ende.